Aufruf als PDF
Am 3. Oktober ist es wieder soweit. Während mittlerweile auch in Europa verschiedene Formen der sozialen Auseinandersetzungen als Antwort auf die kapitalistische Reorganisierung stattfinden, zelebriert die BRD in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn die Feier der deutschen Nation. Unter dem Motto „Freiheit.Einheit.Freude – Bewegt mehr.“ feiert sich der stolze Krisengewinner und die „Vorzeigenation“ Europas ein ganzes Wochenende auf sämtlichen Fest- und Parademeilen selbst. Ein idealer Anlass zur antinationalen Intervention: Denn was gibt es an einem 3. Oktober besseres zu tun, als die Deutschland-Party zu stören?
Die Einheitsfeier ändert zwar nichts an der alltäglichen Ohnmacht in den Mühlen von Staat und Kapital, jedoch ist die Identifikation mit dem nationalen „Wir“ ein ideologischer Fluchtreflex vor dem Druck kapitalistischer Konkurrenz und Vereinzelung – zugleich aber ihr bestes Schmiermittel. Die umjubelte „Freiheit“ ist nichts anderes als ein gesellschaftliches Zwangsverhältnis, das die Menschen als Privateigentümer in permanente gesellschaftliche Konkurrenz zueinander versetzt. Gerade vor dem Hintergrund aktueller Krisen geht die Allgegenwärtigkeit der ökonomischen Bedrohungslage des Einzelnen mit der Erfahrung einher, dass die jeweiligen Verwertungschancen von den nationalen Reichtumsproduktionen abhängig sind. Im Moment der Krise rücken Bevölkerung und Staat zur realen national-ökonomischen Gemeinschaft in der Weltmarktkonkurrenz zusammen. Der stinknormale Nullachtfünfzehn-Nationalismus, die Gewissheit und das Gefühl einer nationalen Zusammengehörigkeit, erlebt in den Erfahrungen der wiederkehrenden Krisentendenzen neue Bedeutung. Sie sind Ausdruck der realen Abhängigkeit des Individuums vom ökonomischen Schicksal „seines“ Staates.
Den deutschen Bienen scheint es aufgrund der ökonomischen Stellung ihres Standortes logisch, dass Aufstand oder Empörung über die miesen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Situation „unangemessen“ ist. Zum Wohle des Standorts lautet das ideologische Motto: Floriert erst das nationale Kapital, geht es uns nicht schlecht oder zumindest immer noch besser als den Anderen. Die sozialen Revolten in Europa dienen den deutschen Standortameisen nicht als Beleg für die Schadhaftigkeit der herrschenden Wirtschaftsordnung. Stattdessen erscheinen Aufstände im Umkehrschluss als Beweis für die Stimmigkeit der eigenen Nationalreligion, bestehend aus Leistung und stoischem Verzicht. Diese Askese für den Standort wird in Krisenzeiten sodann gleich zum Exportschlager und zum ethischen Leitbild für Europa.
Sirtaki und der große Krisenschlager
Die Staatspleiten der sogenannten „Schweineländer“ der europäischen Peripherie (PIIGS-States) verschaffen den Deutschen zudem einen zusätzlichen ideellen Krisengewinn. Sie scheinen zu belegen, dass die Verzichtspraxis der letzten Jahrzehnte sich bewährt und auszahlt. Die eigene Opferbereitschaft für den Standort schlägt gegenüber den PIIGS in Bestrafungsphantasien um. Sozialchauvinistische Hetze steht auf der Tagesordnung: den „Pleitegriechen“ und „faulen Südländern“ werden soziale Einschnitte an den Hals gewünscht. Die Nicht-Leistung der Überflüssig-Gemachten erscheint als „Faulheit“ und damit als Erpressung an der europäischen Gemeinschaft. Wer sich nicht in die Leistungsmaschinerie einfügt, gilt als „dekadent“. Im medialen Diskurs wird die Europäische Union als eine schicksalhaft zusammengeschweißte Gemeinschaft verklärt; dies geschieht vor dem Hintergrund einer ökonomischen und politischen Abhängigkeit der einzelnen Nationalstaaten untereinander. Zum Zwecke der Geldvermehrung tendiert die öffentliche Krisendebatte zum vollendeten Opportunismus der herrschenden Verhältnisse, zum Sozialchauvinismus erster Güte. An diese Form der ideologischen Krisenverarbeitung setzt der Rassismus á la „Pleitegriechen“ und „faule Südländer“ problemlos an. Die Finanzierungsschwierigkeit der Staatsgewalten in Europa gilt als Beweis für die nationalen Charakterzüge einer Dekadenz und Arbeitsunwilligkeit. Die „Freude“ über die elendigen Verhältnisse in der BRD geht einher mit der rassistischen Forderung, dass den „südlichen Völkern“ die Verhältnisse verpasst werden, die zu ihren defizitär ausgemachten Charakterzügen passt.
Durch die Entfaltung der Staatsschuldenkrise in Europa treten die ökonomischen Ungleichgewichte im Euroraum in den Vordergrund. Das Projekt EU war stets mit dem Anspruch verbunden, der „dynamischsten Wettbewerbsraum“ der Welt zu werden. In der Krise steht die Währungs- und Wettbewerbsunion scheinbar vor ihrem Scheitern. Die innereuropäische Konkurrenz um Wachstumsanteile funktionierte für die Exportökonomie der BRD so gut, dass die europäischen Peripheriestaaten in den Bankrott getrieben wurden.
Als größte Wirtschaft Europas und „Exportweltmeister der Herzen“ hat der deutsche Staat ein besonderes Interesse an der ökonomischen Integration der EU. Seine hervorgehobene Stellung im politischen Geschäft Europas verdankt er sich insbesondere seinem ökonomischen Gewicht. Zugleich galt für die „Führungsmächte“ in Europa (Deutschland, Frankreich) die europäische Integration gerade nur unter dem Vorbehalt der Sicherung und Ausweitung ihrer eigenen ökonomischen Vormachtstellung. Dieser Hackordnung unterwarfen sich die anderen EU-Länder jedoch gerne; durch Marktöffnung und die Nutzung des Gemeinschaftsgeldes Euro, womit sie für niedrige Zinsen Schulden aufnehmen konnten, wollten sie ihren eigenen Standort fürs Weltmarktgeschäft tauglich machen.
Die europäische Union als transnationaler Standort setzte auf die Forcierung der innereuropäischen Konkurrenz, sodass die jeweiligen Staaten die Förderung ihrer Wettbewerbsfähigkeit als selbstständiges Anliegen ihrer Politik entwickeln. Rhetorisch fand diese Übereinkunft aller EU-Staaten lange vor den Schmähungen der „Pleitegriechen“ seinen Niederschlag in der jährlichen Vergabe von Titeln wie „Wachstums-Lokomotive“ oder „Europas rote Laterne“. Jeder Aufbau einer Nation als Standort bedeutet Konkurrenz. In dieser Konkurrenz versucht jede Nation vom Wachstum der anderen Nationen zu profitieren, jedoch geht ihr Profit ebenfalls auf Kosten der anderen Nationen. Im nationalen Verzicht auf eine eigene Währung bestand zudem die Möglichkeit, das Gemeinschaftsgeld für seinen nationalen Wachstumserfolg in Anspruch zu nehmen. Doch durch die Freiheit der Haushalte konnte sich jeder Staat in einem gemeinsamen Geld verschulden und damit den anderen Euro-Staaten die Freiheit ihrer Verschuldung begrenzen. Dieser Widerspruch tritt als Staatsschuldenkrise in Erscheinung, Kern dieses Widerspruches bleibt Europa als Wettbewerbsgemeinschaft und das zu ihr gehörige Projekt des Euros. In der Krise bewegt sich die innere Einheit Europas stets in den scheinbar äußeren Gegensätzen von nationaler Vorteilsuche der jeweiligen Staaten und dem Gemeinschaftsprojekt aller EU-Staaten, „Europa“ als Weltmacht auf die Bühne der Geschichte zu heben und den Euro, als wirkendes und geltendes globales Geschäftsmittel (Weltgeld) neben den Dollar zu installieren.
Kommunismus statt EU!
Die in der Staatsschuldenkrise gespannten „Milliardenschrime“ werden als selbstlose Rettungsaktion verkauft. Jedoch basieren die ergriffenen Maßnahmen keineswegs auf etwas wie einer Solidargemeinschaft. Durch die staatliche Neujustierung sollen die europäischen Weltmachtambitionen verteidigt werden.
Die „Rettungspakte“ werden daher auch nur im Tausch gegen die finanzpolitische Souveränität über die Haushalte einzelnen Staaten gewährt. Mit der Begründung, es gelte verantwortungslose „Schuldenmacherei“ zu unterbinden, wird den zahlungsunfähigen Ländern von der Europäischen Zentralbank (EZB) in Kooperation mit der Brüsseler Kommission und dem Internationalen Währungsfond (IWF) – zusammen „Troika“ genannt – der Haushalt geführt. Jedes in finanzielle Nöte geratene Land hat von diesem Maßstab aus neuerdings kein unmittelbares Anrecht mehr auf die Nutzung des Geldes als Kreditmittel zur Wirtschaftsförderung. Die von der „Troika“ verordneten „Austeritäts-Programme“ dienen offiziell dem Ziel, den strauchelnden Ländern „Anpassungen“ zur Wiederherstellung ihrer Konkurrenzfähigkeit abzuverlangen. Tatsächlich aber verordnet die europäische Haushalts-Aufsicht ein nationales Schrumpfen, das der Entwertung des gesamten Inventars dieser Nationen so nahe kommt, wie sie ein offizieller Staatsbankrott erzwungen hätte. Der Charakter dieser Krisenlösung ist die politische Festschreibung der ökonomischen Hierarchie innerhalb der Währungsunion. Die „Rettung des Euros“ buchstabiert sich als europäische Pflicht – als Gemeinschaftsprojekt, dass die Lohnabhängigen durch die Entwertung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse zu leisten haben.
Das absehbare Ergebnis der Neuordnung des europäischen Herrschaftsregimentes ist die politisch kalkulierte Verelendung breiter Teile der Bevölkerungen und die Festschreibung der Vormachtstellung der BRD in „Deutsch-Europa“. Dass bei diesem Programm die ideelle Feindschaft zwischen den Sieger- und Verlierernationen dieser Ordnung gehegt und gepflegt wird, versteht sich von selbst.
Antinationalismus muss praktisch werden!
Dieser radikalen Reorganisation der kapitalistischen Verwertung in den europäischen Ländern begegnen diverse soziale Kämpfe, die sich der neuen europäischen Rechnungsweise nicht unterwerfen wollen. Der Kampf gegen die Entwertung der Lebensordnungen gerät in Widerspruch zum herrschenden Zwang der politisch verordneten „Schuldenbremse“.
In Griechenland spitzen sich die sozialen Konflikte seit Längerem zu, sozialer Frieden ist für den Moment vergessen. Bereits seit der Dezember-Revolte 2008 stellen größere, radikale Zusammenhänge den griechischen Staat des Kapitals in Frage. Zugleich ist neben den routinierten Generalstreiks der Gewerkschaften anlässlich der EU-Spardiktate im Sommer 2011 eine bürgerliche „Empörten-Bewegung“ entstanden. Innerhalb dieser verschiedenen Bewegungen wird die soziale Krise als von „Außen“ aufgedrückt verstanden; nicht selten erscheint die Dominante Europas, die BRD, als Ausgemach des Bösen. Hierdurch übernehmen die Protestierenden die Perspektive des griechischen Staates in seiner problematischen Abhängigkeit vom Diktat der Troika als ihre zentrale Angelegenheit. In solchen Vorstellungswelten erscheint Griechenland als eine „unterdrückte Nation“, und nicht als der bürgerliche Staat in seiner Funktion des Standortmanagers für das heimische wie internationale Kapital. Staats-Imperative, wie z.B. Wachstum und Konjunktur, werden von der Protestwelle übernommen, statt deren herrschaftlichen Charakter der Kritik zu unterziehen. Eine kommunistische Agitation klagt dagegen den Irrsinn des großen Ganzen an und verlangt dessen Niedergang.
Auf den Protestcamps in Spanien spukt ein ähnlicher „Empörungs“-Geist wie in Athen. Die Klage über eine „undemokratischer“ Politik nimmt die angeblich alternativlose Durchsetzung europäischer Krisenpolitik ins Visier, der mit der Forderung nach „echter Demokratie“ und „Freiheit“ begegnet wird. Doch die Hochhaltung dieser Ideale vermag keine passende Antwort auf die europaweiten, sozialen Einschnitte zu geben. Schließlich sind es diese Ideale der bürgerlichen Ordnung selbst, die in der Krise zum Vorschein kommen. Die utopische Sehnsucht, die bürgerlichen Ideale aufzufrischen und die Nation zum Besseren zu ändern, verbleibt nur in Perspektivlosigkeit und Entmachtung. Stattdessen setzt ein antinationaler Ansatz auf die Negation bürgerlich-kapitalistischer Ordnung.
Die Riots der Vororte in England verkörpern eine andere Form von Krisenverarbeitung. Anstatt einer Verherrlichung der Ideale der bürgerlichen Ordnung vollzog sich eine Organisierung der Überflüssig-Gemachten als Bande im Aufstand. Die Reproduktionskrise der in die Elendsquartiere Verbannten fand seine absehbare Antwort im Raub und der Plünderung, im Angriff auf die Institutionen des Rassismus und Sozialchauvinismus sowie in blinder Zerstörungswut. Der britische Staat reagierte mit dem juristischen Ausnahmezustand, der unter dem Stichwort „Law and Order“ nur noch die Frage der Kapazitäten der Knäste kennt. Gegen die Option des Bandenraubs und der weiteren autoritären Formierung ist eine kommunistische Perspektive jenseits von Ausgrenzung und Integration zu formulieren.
Jenseits von „Empörung“ und Riots steht die BRD bisher als Krisengewinner dar. Die Sozialpartnerschaft der Gewerkschaften zum „Gürtel enger schnallen“ geht einher mit der sozialchauvinistischen und rassistischen Hetze in der demokratischen Meinungsbildung. Die Verwertbarkeit des Kapitals wird als Verteidigung der eigenen nationalen Machtmittel gedacht, denn die „faulen Südländer“ machen „unseren Euro“ kaputt. Aus ihrem ideellen Anspruch auf den Euro als Mittel zur weiteren Vermehrung des nationalen Eigentums entspringt der Chauvinismus, wenn nötig den „Südländern“ mittels Zwang zum Glück europäischer Wettbewerbsfähigkeit zu verhelfen. Eine antinationale und kommunistische Intervention richtet sich gegen die sozialchauvinistische Stimmungsmache nach „innen“ wie nach „außen“ und hält die Flamme grenzüberschreitender Solidarität gegen den Irrsinn vom einem immer schnelleren „Rennen, Rackern und Rasen“ im Hamsterrad der kapitalistischen Konkurrenz hoch.
Gegen die weitere Durchsetzung von Krisennationalismus, Leistungsterror und Standortpolitik gilt es den revolutionären Defätismus – die Einsicht, dass ein gutes Leben nur in der Niederlage der eignen Nation zu finden ist – zu stärken. Weder die reformistischen Anbiederung an den Zwangszusammenhang aus Staat und Nation, Kapital und Lohnarbeit, noch der selbstzufriedene Rückzug auf die Position der kritischen Kritiker*innen vermag die notwendigen Schritte zur Assoziation freier Individuen zu beschreiten. Erst wenn sich den Standortpolitiken kollektive Verweigerung und gemeinsame Kämpfe für die eigenen, radikalen Bedürfnisse entgegenstellen, dann steht die Krise als eine des Kapitalismus, und nicht – wie bisher – seines „unflexiblen Humankapitals“ überhaupt erst auf der Tagesordnung.
Egal ob in Athen, Madrid oder London: antinationale Kritik fokussiert immer die Mühen ideologischer Widerspruchsbereinigung sowohl in der kapitalistischen Normalität als auch in dessen Krisenverwaltung. Ohne in naiven Bewegungsoptimismus zu verfallen, ergeben sich in den Kämpfen immer wieder Ansatzpunkte theoretischer und politischer Radikalisierung. Der Kampf um ein besseres Leben gelingt eben nur als soziale Revolution. Bis dahin greifen wir den ideellen Rückhalt für Staat und Kapital an und organisieren den Vaterlandsverrat. Die Einheitsfeierlichkeiten in der alten Bundeshauptstadt sind der ideale Anlass, um der Freude und Sorge um Deutschland mit der Idee des Kommunismus zu begegnen.
Für einen internationalen Antinationalismus!
02. und 03. Oktober: Heraus auf sämtliche Partymeilen von „schwarz-rot-geil“!
Auf nach Bonn!
Der Aufruf wird unterstützt von:
autonome antifa [f] (FF/M), Basisgruppe Antifaschismus (Bremen), Redical [M] (Göttingen), Fast Forward Hannover, Gruppe Kritik & Intervention (Bielefeld), TOP B3rlin, Anarchistische Gruppe Freiburg & Gruppe C² (Wiesbaden)
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