Der Fall Lukas B.

Am 9. April 2012 wurde auf dem linksalternativen Nachrichtenportal linksunten.indymedia.org ein Artikel veröffentlicht, welcher den bisher der linken „Szene“ zugehörigen Lukas B. „Luke“ als einen Überläufer zur Nazi-Szene outet. Als Gruppe, die in Köln und überregional linksradikale und antifaschistische Politik betreibt, möchten wir zu diesem Vorfall Stellung nehmen.

Da die Auseinandersetzung mit dem Fall Lukas B. bisher von Gerüchten und Halbwahrheiten geprägt ist, möchten wir zunächst eine Bestandsaufnahme der Informationen vornehmen, die wir als gesicherte Fakten betrachten.

Hierzu gehört die Beteiligung von Lukas B. an einem Übergriff auf Personen, welche von ihm der linken Szene zugeordnet wurden. Dieser geschah in der Nacht von Samstag, den 7.4.2012 auf Sonntag, den 8.4.2012, in der Wuppertaler Innenstadt.

Weiterhin kann als gesichert gelten, das Lukas B. bereits im Vorfeld Kontakt zu Personen der Neonaziszene hatte. So wurde er am 30.3.2012 zusammen mit Tim S., einem in Wuppertal wohnhaften Neonazi, in Wuppertal gesehen. Außerdem wurden Fotos von ihm entdeckt, die ihn posierend mit bekannten Neonazis zeigten. Zeitlich kann dieses Foto vor den Übergriff eingeordnet werden, da Luke auf selbigem mit einer Jacke zu sehen ist, welche er zum Zeitpunkt des Übergriffs bereits verloren hatte.

Schlussendlich kann bestätigt werden, das Lukas B. in der Nacht von Mittwoch, dem 11.4.2012 auf Donnerstag mit einer Gruppe von 7-10 Neonazis in der Altstadt von Düsseldorf unterwegs war und sich dort auch an einem Übergriff auf eine von den Neonazis der linken Szene zugeordneten Person beteiligte.

Daher können wir den Fakt bestätigen, das es sich bei Lukas B. um einen Überläufer handelt. Wir möchten daher alle linksradikalen und antifaschistischen Personen warnen, dass mit ihm in keiner Form kommuniziert werden sollte. Weiterhin bitten wir um Verbreitung dieser Information an alle Personen, damit nicht unter der Annahme, Lukas B. sei der linksradikalen Szene in irgendeiner Form zugehörig, diesem Informationen weitergegeben werden.

Als unbegründet erwiesen sich jedoch nach unserem momentanen Informationsstand die Gerüchte eines Überlaufens von Personen in seinem sozialen Umfeld. Weiterhin haben diese Personen keine Informationen über die antifaschistische Szene an ihn weiter gegeben. Wir fordern Personen, welche Drohungen gegen dieses Umfeld aussprechen, auf, dies zu unterlassen.

Zur Kritik der Reaktion

Nachdem die Erkenntnis, das Lukas B. tatsächlich die Seiten gewechselt hatte, in der linksradikalen Szene gewisse Kreise gezogen hatte, reagierten viele Personen, vor allem aus dem unorganisierten Spektrum, völlig überhastet und ohne ihr Verhalten zu reflektieren. Sowohl auf linksunten.indymedia.org, auf der Lukas B. zuvor als Überläufer geoutet worden war, als auch im Social-Network Facebook wurden wüste Drohungen und wilde Phantasien geäussert, was jetzt mit dem „Verräter“ zu tun sei. Unbestätigte Informationen über Sichtungen wurden gepostet.

Wir kritisieren dieses Verhalten aus drei Gründen. Zunächst einmal sind alle Informationen, die auf diese Art gepostet werden, öffentlich zugänglich. Dies bedeutet, dass auch die Nazis wissen, was über sie bekannt ist. Dies erlaubt ihnen einerseits, sich auf Reaktionen von antifaschistischer Seite vorzubereiten und andererseits durch die Art und Form der Informationen Rückschlüsse auf deren Quellen zu ziehen. Ausserdem können Drohungen auch einen unbeabsichtigten Informationsgehalt für die Nazis haben. Die einzig sichere Art der Kommunikation mit Nazis ist gar keine.
Wir raten daher, die Preisgabe von Informationen durch Postings bei Indy und co. zu reflektieren und gegebenenfalls einzustellen. Es bringt Leute konkret in Gefahr und vereitelt Antifa Aktionen. Sollten Informationen vorhanden sein, würden wir es begrüßen, wenn diese stattdessen intern weitergegeben werden, beispielsweise an lokale Antifagruppen.

Zweitens sind viele Informationen, die dort gepostet werden, strafrechtlich relevant. Wenn Leute öffentlich Drohungen posten oder sich in Gewaltphantasien ergehen, interessiert das durchaus auch die Bullen. Daher würden darum bitten, solcherlei Vorhaben nicht öffentlich oder semi-öffentlich kund zu tun. Die Nazis sind von solchen Drohungen sowieso nicht beeindruckt und die Bullen sind sehr dankbar, wenn sie einen etwas genaueren Blick auf die Szene werfen können. Diese Gelegenheit sollte ihnen nicht gegeben werden. Das Ankündigen von Straftaten erhöht den Repressionsdruck.

Drittens ist es aus der Perspektive einer Bewegung, die den Anspruch hat, emanzipatorisch zu sein, problematisch, wenn Personen, die sich selbiger zurechnen, Beiträge posten, die Gewalt abfeiern und teilweise vor Mackertum, Sexismus und Homophobie nur so strotzen. Dies ist soll keine Absage an notwendige Militanz sein, wohl aber einen Aufruf darstellen, das Verhältnis von Militanz und politischem Anspruch zu reflektieren. Militanz kann notwendig sein, aber Gewalt ist niemals geil oder wünschenswert. Beiträge wie beispielsweise Kommentare bei Indymedia haben eine Außenwirkung und können im schlimmsten Fall dazu beitragen, das Bild von Linksradikalen als gewaltgeilen Eventtourist_innen in der Öffentlichkeit stärken. Nichts ist weniger wünschenswert als das, wenn es um die Vermittlung politischer Inhalte geht.

Abschließend wollen wir noch ein paar Worte über die Drohungen verlieren, die gegen das Umfeld von Lukas ausgesprochen wurden. Teilweise in dichter zeitlicher Abfolge empfingen diese Personen Drohungen, die massive Einschränkungen von deren körperlicher Gesundheit ankündigten, teilweise an die Bedingung geknüpft, keine Informationen an die Nazis weiter zu geben, teilweise mit direktem Ankündigungscharakter. Informationen, dass diese Personen ebenfalls in irgendeiner Form an einem Überlaufen interessiert seien, erwiesen sich nach kurzer Recherche mit minimalem Aufwand als haltlose Gerüchte.

Der Situation gerecht geworden wären Solidaritäts- und Mitfühlensbekundungen, bzw. kritische Nachfragen. Passiert sind Drohungen abstruser Art. Selbst wenn die Gefahr bestanden hätte, das weitere Personen des sozialen Umfeldes von Luke überlaufen, wäre die Reaktion, diesen Personen einen sozialen Raum zu schaffen, dem sie sich zugehörig fühlen können, wesentlich logischer gewesen, als diese mit Drohungen und Einschüchterungen quasi zu zwingen, die linke Szene quasi fluchtartig zu verlassen. Diese Gefahr war zu keinem Zeitpunkt real, diese Tatsache war mit minimalem Rechercheaufwand ersichtlich. Was geschehen ist, ist ein verbales Einprügeln auf Personen, die aufgrund der Situation ohnehin schon emotional höchst belastet gewesen sind. Dieses Verhalten ist aus emanzipatorischer Perspektive zu verurteilen.

Was tun?

Aufgezeigt hat der gesamte Hergang der Situation ein strukturelles Defizit im Organisationsgrad der radikalen Linken. Querschüsse und unüberlegte Alleingänge wie das Rumposten von Drohungen oder vertraulichen Informationen, die Bullen und Nazis nützen, sind nicht möglich, wenn Leute organisiert sind, einen kühlen Kopf bewahren und sich zunächst einmal untereinander besprechen, bevor sie handeln. Der Umgang mit Facebook, mit Repressionsorganen und das Verhältnis von emanzipatorischem theoretischen Anspruch zu Praxis, wozu auch Militanz gehört, sind Kenntnisse, die offensichtlich in der linken Szene nicht weit genug verbreitet sind. Diesem Defizit muss entgegengewirkt werden. Um dies zu beantworten, halten wir die Reflexion von Praxis im Kontext politischer Theorie und Vorstellungen sowie Organisation in Gruppen für sinnvoll. Damit einher geht Etablierung von Strukturen, die es vermögen, in herausfordernden Situationen wie der des Überlaufens des Lukas B. Plattformen zur Reflexion des Geschehens und zum koordinierten Handeln zu schaffen.

Denn es gilt: Wenn Antifaschismus mehr sein soll als ein subkultureller Habitus, muss er inhaltlich bestimmt werden. Dafür ist zu klären, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben und wie mithin gegen rechtsradikale Bewegungen vorgegangen werden sollte. Denn ohne einen Begriff von sich und seinem Gegenüber bleibt Antifaschismus ziellos und lediglich eine Wiederholen des falschen Ganzen, ohne eine darüber hinaus weisende Perspektive. Krieg, Abschiebungen, Arbeit, Armut, Umweltzerstörung, etc. – die kapitalistische Gesellschaft produziert am laufenden Band Elend und Unvernunft. Dafür braucht es keinen Faschismus, sondern bloß die demokratische Verwaltung des Kapitalismus. Rechtsradikale Bewegungen knüpfen an die Probleme im Kapitalismus an und versprechen den brutalen Kampf der kapitalistischen Interessen in als „natürlich“ oder „göttlich“ vorgestellten – jedenfalls irrational legitimierten – Gemeinschaften still zu stellen. Daher verfolgt ein linksradikaler Antifaschismus zwar auch das widersprüchliche Projekt der Verteidigung der liberalen bürgerlichen Gesellschaft gegen ihre eigenen Geschöpfe. Er geht jedoch noch weiter und weist während des Kampfes gegen den Faschismus konsequent die Notwendigkeit des Entstehens reaktionärer Ideologien in der bürgerlichen Gesellschaft nach. Daher fordert er ihre Überwindung ein.

Daraus folgt: Linksradikaler Antifaschismus ist kein Selbstzweck, er muss Teil eines Kampfes ums Ganze sein.

Antifa AK Köln, April 2012