Dr. Jekyll & Mr. Hyde oder: Die bürgerliche Demokratie und ihre braunen Problemkinder

jekyllWas ist von einem Ort zu halten, dessen Wahrzeichen weder einen Namen noch eine Geschichte vorweisen kann? Wäre dies der Anfang eines Skandinavien-Krimis, müsste wohl bald der Satz folgen: Das Grauen wartet in diesem Nirgendwo. Doch in der Realität trägt zumindest das Ortsschild einen Namen: Stolberg. Wirklich berühmt ist das Städtchen nicht für seine aristokratische Tradition (der Name ist wohl abgeleitet vom Edelherrengeschlecht „Stalburg“), sondern für seine umtriebige faschistische Szene. An diesen wie an vielen anderen Orten der BRD zeichnet sich ein seltsamer Fall ab, gleich einer Novelle des  19. Jahrhunderts aus der Feder des Herrn Stevenson, „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Der ehrbare und angesehene Kleinbürger Dr. Jekyll spaltet dort durch Laborversuche seine „animalischen Triebe“ von sich selber ab; diese bündelt er in der verwerflichen und verkümmerten Person des Mr. Hyde, einem aufgrund seiner Kapitalverbrechen polizeilich gesuchten Schwerverbrecher. So kann Dr. Jekyll via provisorischer Metamorphose zu Mr. Hyde Täter sein, aber gleichzeitig durch soziales Engagement die Taten wiedergutmachen und seine Weste reinwaschen. Mr. Hyde vollbringt Dr. Jekylls Drecksarbeit.
An einer solchen Persönlichkeitsspaltung scheint auch die bürgerliche Gesellschaft zu leiden: für die aufrechten Demokrat*innen bieten die verpönten Nazis ein Aussonderungsinstitut für Rassismus und Nationalismus. Auch die rheinländischen Demokrat*innen vergewissern sich gerne, dass rechte Gewalt und die Untaten „des Bösen“ im beschaulichen Städtchen wahrlich nichts mit ihnen zu tun haben. Denn sowohl hier als auch da – im weltliterarischen Vorzeigewerk wie im bedeutungslosen Kaff im Rheinland – steht selbiges auf dem Programm: die Reputation ist in Gefahr und keine Kosten sind zu scheuen, dass der gute Ruf gewahrt bleibt. Dr. Jekyll lässt grüßen.

Doch hinter solchen Theaterkulissen erweisen sich sowohl Demokrat*innen als auch Faschist*innen als überzeugte Nationalist*innen; wenn dabei auch die Nazis aufgrund ihrer Ablehnung der demokratischen Spielregeln als besonderer Verein zu verstehen sind. Im Grunde arbeiten sie jedoch an der Lösung für die gleichen, selbst gestellten Problemlagen, die sich das bürgerliche Subjekt vorlegt; das deutsche Volk soll vor Schaden bewahrt werden, eine Wirtschaft soll auf das nationale Wohl gerichtet sein und die Nation soll vor „fremder“ Bevormundung gewahrt bleiben. „Flüchtlingsströme“, „Deutschenfeindlichkeit“ usw. sind eben keine Erfindungen der braunen Hetzkolonnen, sondern Alltagsjargon bürgerlicher Stimmen der BRD.

Jede*r aufrechte Demokrat*in kümmert sich ernsthaft um die Sorgen der Nation. Der Nationalismus als „objektive Gedankenform“ einer staatsbürgerlichen Vergesellschaftung steht im Zentrum jedweder demokratischen Politik. Daher lebt das deutsche Ausländergesetz von der schlichten Sortierung nach In- und Ausländer*innen. Der Dorn im Auge der Nazis ist das staatliche Nützlichkeitsparadigma bezüglich Immigration. Dieses Imperativ der Kosten-Nutzen-Analyse von der (modernen) bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wird von den Nazis abgelehnt; sie ertragen den der Logik des Kapital folgenden Realismus der herrschenden Demokraten nicht. Der faschistische Standpunkt duldet nämlich kein Abarbeiten im bürgerlichen Sinne an Problemen, die die nationalen Maßstäbe betreffen (Migrationspolitik); er erfordert die simple wie rigorose Durchsetzung der national-ethnischen Sortierung durch die Staatsmacht. Wo dies mal nicht geschieht, unterstellen die Nazis den Demokrat*innen fehlenden Willen, der durch ihre pragmatische Handarbeit (im Sinne von brennenden Flüchtlingsheimen) behoben werden soll. Darüber herrscht wiederum bei den Demokrat*innen Empörung, denn „normal“ ist das schließlich nicht. Die Nazis sollen nicht totschlagen, wo doch eigentlich Vater Staat zwischen prüfen, zuführen, integrieren, begrenzt dulden, in Gewahrsam nehmen oder auch abschieben erwägen „muss“, um produktives Menschenmaterial sicherzustellen bzw. um den unnützen „Rest“ einzusperren und abzuschieben, d. h. um den rassistischen Normalvollzug auf seine Art zu realisieren. Der Konflikt dreht sich also keinesfalls um den Inhalt der Politik, sondern lediglich um die Durchsetzungsform – vielmehr eine Frage des „Wie“ als eine Frage nach dem „Was“. Von daher liegt mensch ganz richtig, wenn gesagt wird: „Nazis morden, der Staat schiebt ab, es ist und bleibt dasselbe Rassisten-Pack!“

Das Subjekt in der bürgerlichen Gesellschaft ist ein doppeltes: citoyen*ne (Staatsbürger*in) und bourgeois*e (Privatbürger*in). Im Zuge dieser feinen Differenz entpuppt sich ein spaltender Doppelcharakter, dem jedes Subjekt bürgerlich-kapitalistischer Couleur – also leider wir alle – zwangsweise gegenübersteht: wo auf dem einen Ufer der*die citoyen*ne durch Loyalität sowie Toleranz gegenüber dem Staat und den Mitbürger*innen in einen kollektiven Zusammenhang gepfercht ist, sieht sich auf dem anderen Ufer der*die bourgeois*e in der kapitalistischen Produktionsweise – einer Ellbogen-Veranstaltung mit permanenter Konkurrenzschlacht um Verwertung – der Befriedigung der eigenen Interessen verpflichtet. Schicksalsgemeinschaft vs. Egoshow. Wer kein*e Staatsbürger*in ist und zur Verwertung als Privatbürger*in nicht taugt, gilt vor dem bürgerlichen Universalgericht als ‚Untermensch`. Der rassistische Ausschluss aus der Menschheit speist sich aus der Angst vor dieser Entwertung.

Wie sieht das konkret aus? Im Zuge des späten Neorassismus verschob sich das ideologische Kriterium für diese Entwertung; der Fokus bewegte sich allmählich von der biologistischen Anschauung hin zur Kultur als Maßstab für die Konstitution des*der Anderen. Das lange dominante und immer noch präsente Feindbild des „Schwarzen“ profiliert sich über die biologische Andersartigkeit, heute ist der „Fremde“ viel mehr noch als zuvor ausgemacht in seiner*ihrer kulturellen Differenz. Der*die pauschal bedrohliche Muslime und dessen*deren Hang zur Gewalttätigkeit, ist zur Schlüsselfigur des*der heutigen Anderen geworden, von welchem*welcher die Subjekte aus dem Westen sich nun zu unterscheiden haben. Von anderen unterscheiden, um sich zugleich in der vorgestellten Gemeinschaft stärker zu verbrüdern, während sie auf dem Markt weiter konkurrieren – citoyen*ne und bourgeois*e eben.
Dieser Widerspruch innerhalb der kapitalistischen Subjektkonstitution verdeutlicht den Fehler, will mensch den Rassismus als „Fremdenfeindlichkeit“ oder als Vorurteilsneigung in die Menschennatur hineinanthropologisieren. Vielmehr verweist der Widerspruch darauf, dass es nicht allein reicht, den Rassismus auf rein ideologischer Ebene zu dekonstruieren. Die materielle Grundlage einer rassistischen Ideologie deutet aber unfehlbar auf die Notwendigkeit hin, der radikalen Rassismuskritik eine fundamentale Kapitalismuskritk (inklusive Kritik am Staat und an der Nation) vorauszusetzen. Es geht nicht nur um den*die rassistische*n Nachbar*in im tristen deutschen Vorort, sondern um dessen*deren herrschaftliche Ursprünge.

Der Rassismus bedient aber nicht nur die ideologische Absicherung der staatlichen Herrschaft über die Staatsbürger*innen. Gleichzeitig widerspricht er als bewusst angewendetes Herrschaftsmittel den grundsätzlichen „Spielregeln“ dieser kapitalistischen Gesellschaft, für deren Umsetzung er aber dennoch nützlich ist. Denn so praktisch es sein mag, dass die aufrechten Demokrat*innen und Nazis es als „gerecht“ empfinden, die Drecksarbeit wie Kloputzen an Afrikaner*innen abzuschieben, so unpraktisch im Kampf um die Weltmarktanteile ist es für den stolzen Standort Deutschland,  ghanaische Unternehmer*innen brennen zu sehen, die doch im Land des Exportweltmeisters investieren sollten. Der Rassismus relativiert sich an den grundsätzlichen Erfordernissen der Herrschaft, für die er funktionalisiert werden soll.

Aus der gemeinschaftlichen Grundlage des Rassismus sowie Nationalismus von Nazis und bürgerlichen Demokrat*innen entspringt auch die Nützlichkeit des faschistischen bzw. rechtspopulistischen Rassismus. An praktischen Beispielen für diese Farce mangelt es nicht: im Schein der Lichterketten wurde vor knapp zwanzig Jahren eine ganze Reihe von rassistischen Gesetzen und Verordnungen umgesetzt. All diese Maßnahmen wurden auf der Basis der gleichen Argumentation ergriffen: Zuwander*innen und Illegale schufen vermeintliche „Probleme“ wie Straftaten und andere Bedrohungen unterschiedlichster Art, wodurch es – wenn die Ordnung nicht wiederhergestellt werde – zum Ausbruch von Rassismus kommen könne. Diese Straftaten und Bedrohungen müssten sich daher der Universalität des allmächtigen Gesetzes beugen, damit erst gar keine rassistischen Unruhen ausgelöst würden. Mit dieser Erklärung erscheint der Heiligenschein des staatlichen  Rassismus „argumentativ“ unterfüttert.

Stevenson lässt in seiner Novelle den honorierten Dr. Jekyll schließlich an der verfahrenen Situation bezüglich einer zweiten Identität, die das isolierte Böse verkörpert, verrecken – und damit gibt auch Mr. Hyde selbst den Löffel ab, bevor das Gericht ihn verurteilt und hinrichtet. Die Analogie ist genauso einleuchtend wie banal – schaffen wir es, dem Kapital den Boden zu entziehen und ein befreites Leben jenseits von Staat und Nation zu führen, können auch Nazis einpacken. Wie es aber wäre, wenn zuerst Mr. Hydes Zeit gekommten wäre, wissen wir nicht. Doch in Stolberg (am 8./9. April 2011) können wir den Verlauf auf den Kopf stellen; es bietet sich an, zuerst ein paar Nazis in den Boden zu stampfen – wie wir die Geschichte dann weiterschreiben, entscheiden wir vor Ort.
Mensch kann es drehen und wenden, wie mensch will – doch die Konsequenz ist und bleibt rabiat, zügellos und klar wie die Klarste der deutschen Kloßbrühen:
Die Normalität heißt Deutschland – Ein Potpourri aus Scheisse.