Der Kommende Ausnahmezustand

Nachdem die Ereignisse um den G20 Gipfel in den vergangenen Monaten eine neue Debatte über die „Gefahr von Links“ auslösten, die sich bis in den Wahlkampf der Bundestagswahl zog, möchten wir darstellen, wie diese für uns einzuordnen sind. Wir, der Antifa AK Köln, sind als Teil des „…ums Ganze!“ Bündnisses in der transnationalen Plattform „Beyond Europe“ vernetzt. Teil dieser ist auch die antiautoritäre Bewegung „Alpha Kappa“ , welche sich bereits seit längerem im Bezug auf Griechenland, vor dem Hintergrund des Krisenregimes mit der Thematik Ausnahmezustand beschäftigen, weswegen wir für eine intensivere Auseinandersetzung hiermit neben der im Text zitierten Literatur auch auf die Arbeit der Genoss*innen hierzu verweisen möchten.

Im Folgenden soll nach einer Bestandsaufnahme der jüngst erfolgten oder geplanten Verschärfungen von Sicherheitsgesetzen, eines erhöhten Drucks des Staates auf die (radikale) Linke in Deutschland und einer Analyse, was diese Phänomene mit der Funktionsweise und Aufgabe des bürgerlichen Staates zu tun haben, aufgezeigt werden, was diese Veränderungen konkret für uns bedeuten und was im Hinblick darauf Handlungsmöglichkeiten darstellen, dem etwas entgegenzusetzen.

Die marginale Linke und die präventive Konterrevolution

„Die Konterrevolution ist weitgehend präventiv; in der westlichen Welt ist sie das ausschließlich. Hier gibt es keine neuere Revolution, die rückgängig gemacht werden müßte, und es steht auch keine bevor. Und doch schafft die Angst vor einer Revolution gemeinsame Interessen und verbindet verschiedene Stadien und Formen der Konterrevolution von der parlamentarischen Demokratie über den Polizeistaat bis hin zur offenen Diktatur.“ -Herbert Marcuse

Was von Marcuse in seinem Text „Konterrevolution und Revolte“ bereits 1972 konstatiert wurde, lässt sich aktuell und erheblich verstärkt seit G20 im Umgang der bürgerlichen Akteure in Staat und Gesellschaft mit der radikalen Linken beobachten.
Hierbei spielt vor allem folgende Entwicklung der letzten Jahre eine gewichtige Rolle: Die fortgeschrittene Verbreitung und Etablierung von offen autoritären und anti-egalitären Positionen, welchen durch den gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck und dessen organisatorischem Rückgrat, der AfD, Vorschub geleistet wurde und die mittlerweile nicht nur breite Zustimmung in der Bevölkerung finden, sondern auch Einzug in die Wahlprogramme der bürgerlichen Parteien gehalten haben. Die leider effektive Diskursverschiebung, welche hierbei stattgefunden hat, schlägt sich ganz konkret in der politischen Angenda der Bundesregierung und dementsprechend in Gesetzen nieder.

Das von bürgerlichen Akteuren im Nachgang der G20 Proteste wie erwartet gezeichnete Bild dieser Ereignisse als „Gewaltorgie“oder „linkem Terror“; der Beteiligten als „Mordbrenner“ (Schulz), „Schwerstkriminelle“ (Maas), welches in der Bewertung militanter Proteste ein wiederkehrendes Muster ist (vgl. Blockupy), tut sein übriges, wenn es um die Legitimation des auch im Wahlkampf nützlichen Rundumschlag gegen Links und Verschärfungen von Sicherheitsgesetzen geht. In einer Gesamtbetrachtung der Rethorik, Positionierung und Maßnahmen der politischen Machthaber*innen der letzten 2-3 Jahre ist es beinahe euphemistisch, nur noch von einem autoritärem Trend statt einem bereits stattfindendem Umbau zu reden.

Dieser lässt sich beispielhaft in einigen Punkten verdeutlichen:

Die von der Koalition aus SPD und CDU in diesem Jahr angestoßene Reform des Strafprozessrechts, welche keine Änderung einer einzelnen Norm, sondern gleich einen ganzen Änderungskatalog darstellt, soll vor allem nur vorgeblich der „praxistauglichen Umgestaltung“, wie es im Gesetzesvorschlag heißt, dienen. Vielmehr geht es bei Betrachtung der hierin enthaltenen Punkte vor allem darum, den staatlichen Sicherheitsorganen wesentlich weitreichendere Befugnisse als zuvor einzuräumen, dies aber, anders als beispielsweise beim sogenannten „großen Lauschangriff“, ohne lästige gesellschaftliche Debatte zu tun.

Reformen wie der Bundestrojaner, neue BKA-Datenbanken und weitere, die von Mitte-Extremisten wie BMI Thomas de Maizière und Heiko Maas vor jeglicher Kritik verteidigt werden, und vor allem die weitestgehend ausbleibende Debatte hierüber sind ohne das aktuelle gesellschaftliche Klima, aus dem sie resultieren, kaum vorstellbar. Sie sind Ergebnis einer grundlegenden Erodierung des Sicherheitsgefühls der Bevölkerung, welche durch rethorische Brandstifter von Rechts befeuert und potenziert, sowie von Law-and-Order-Fans in den großen Parteien genutzt wird. Zurückzuführen ist diese Entwicklung vor allem auf die immernoch anhaltende Finanz- und der daraus resultierenden Legitimationskrise bürgerlicher Herrschaft. Das erschütterte Vertrauen in den Staat, der Aufstieg völkischer Ideologien, welcher sich am 24. September mit dem Einzug der AfD als drittstärkste Kraft in den Bundestag wiederholt manifestierte, das Bröckeln des von Deutschland dominierten Projektes EU nicht mehr nur an seinen Rändern und andere Krisenphänomene gehen nicht spurenlos an den Machthabenden vorbei, sondern beeinflussen auch deren Handeln und offenbaren damit die Relativität der sogenannten gesellschaftlichen Mitte. Es ist noch nicht lange her, dass die AfD den Einzug in zahlreiche Landtage geschafft hat, aber bereits jetzt ist das Dogma, dass keine parlamentarische Zusammenarbeit mit dieser stattfindet, von der Union in Sachsen- Anhalt aufgekündigt worden. Die Mehrheit der Unionsfraktion stimmte, in Reaktion auf die durch G20 angeheizte Scheindebatte über „linke Gewalt“, einem Antrag der AfD auf Einsetzung einer Enquete-Kommission zur Untersuchung des „Linksextremismus“ zu.

Selbst in einer Situation, in der die radikale Linke also stark marginalisiert darsteht und keine existenzielle Bedrohung für die bürgerliche Ordnung darstellt, wird sie von deren Vertreter*innen als Feind wahrgenommen, gegen den man sich auch mit völkischen Akteuren gemein machen kann.

Um zu verdeutlichen, zu welchen Schritten der real existierende Liberalismus im Zweifelsfall bereit ist, um mit Gegner*innen fertig zu werden, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Hervorzuheben sind vor allem der Erlass der Notstandgesetze als Reaktion auf die Proteste der APO 1968, den unter Bundeskanzler Willy Brandt in Kraft getretenen sog. „Radikalenerlass“, der praktisch eine Berufsverbotsmaßnahme für viele linke Aktivist*innen darstellte und trotz starker Kritik selbst vom europäischen Verbündeten Frankreich bis Anfang der 90er Jahre galt sowie das staatliche Handeln während dem sogenannten „deutschen Herbst vor 40 Jahren: Nicht nur im Krisenstab unter Schmidt, sondern auch in der bürgerlichen Öffentlichkeit wurde über die Wiedereinführung der Todesstrafe debattiert, um der RAF Herr zu werden.
Hierin bewahrheitet sich auch die Eingangs von Marcuse dargestellte These: Die Revolution steht heute, weniger noch als damals, alles andere als bevor; die radikale Linke ist weder gut organisiert, noch gesellschaftlich besonders präsent, während die neue Rechte von den beschriebenen Krisenphänomenen profitiert und sich etabliert hat.
Statt der Revolution vollzieht sich die präventive Konterrevolution, statt dem kommenden Aufstand droht der kommende Ausnahmezustand.

Nicht die Ausnahme, sondern der Ausnahmezustand bestätigt die Regel

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ – Carl Schmitt

Der Staat reguliert in verrechtlichter Form die gesellschaftlichen Konflikte. Die Normalität, welche die Bürger*innen genießen, die Abwesenheit von Gewalt, die der Staat als Gewaltmonopolist garantieren soll, fällt damit mit der Garantie der Eigentumsverhältnisse und des bestehenden Systems zusammen. Dieser Prozess geht für den Citoyen, den/die Bürger*in, meist unsichtbar von statten. Er sieht die gesetzgebende Gewalt des Staates und dessen Postulat der Gleichbehandlung aller vor dem Souverän. Diese formelle Gleichbehandlung findet jedoch vor der im Kapitalismus notwendigerweise auftretenden materiellen Ungleichheit der unterschiedlichen Klassen statt und verewigt somit die Vorherrschaft des Bürgertums. Der gesellschaftliche Konsens, zu dessen Schaffung der Staat ein Instrument ist, ist der kapitalistische Normalvollzug mit all seiner Erschaffung von erheblichen gesellschaftlichen Ungleichheiten. So erscheinen den Bürger*innen die reale Einheit zwischen dem Staat und seinem Recht mit der Sphäre der kapitalistischen Ökonomie als Trennung in voneinander verschiedene Bereiche, die sich mitunter auch öffentlichkeitswirksam als Antagonisten in Szene setzen. Übersehen werden sollte zudem nicht, was auch konstitutiv für das Argument ist, welches wir hier vorbringen. Der Staat bestimmt nicht nur per Gesetz, was zu unterlassen ist, sondern schafft so auch etwas Positives: nämlich den Modus all derjenigen, die seinem Rechtsanspruch unterworfen sind, sich aufeinander zu beziehen. Die in Zeiten der realen, behaupteten oder vermuteten Bedrohung aufkommende Forderung, dass keine rechtsfreien Räume zu dulden seien, meint letztendlich, dass alle gesellschaftliche Autonomie vom Staat verboten ist. Agnoli beschreibt dies mit den Worten:

„Wenn es zur Aufgabe des Verfassungsstaates gehört, die Freiheit zu garantieren, und er sich zu diesem Behufe als Rechtsstaat definiert, so meint er gleichzeitig auch seine Funktion, den sozialen Räumen durch Gesetze und Institutionen wieder die Autonomie zu nehmen; er meint seine Befugnis, jeden Dissens auszugrenzen.“

Die Rolle des Staates als autoritäre Befestigung gesellschaftlicher Ungleichheit beginnt also nicht erst im (aktuellen) Kippen ins Autoritäre, sie erweist sich zu diesem Zeitpunkt lediglich mit größerer Deutlichkeit. Zu tun haben wir es nicht aber mit einer Änderung der Qualität, lediglich mit einer Zunahme der Quantität, einer Realisierung des ohnehin vorhandenen Potentials.

Wie stellt sich nun der Staat im Rechtsruck der heutigen Zeit dar? Nach einer vorausgegangenen Beschreibung dieses Vorgangs wäre nun das Augenmerk darauf zu werfen, warum der Souverän diesen Weg in einer Zeit gesellschaftlicher Krise und Herausforderung seines Deutungs- und Vollstreckungsanspruches einschlägt, ob diese nun real oder herbei ideologisiert ist. Nicos Poulantzas stellt in seinem Werk „Staatstheorie“ zu Recht fest, dass eine Reduktion des Staates auf die rechtliche Ebene eine Unterschlagung ist. Die Setzung des Rechts als funktionale Grundlage für den gesellschaftlichen Normalvollzug beinhaltet grundsätzlich die Möglichkeit zu deren, wenn notwendig, gewaltsamer Durchsetzung.

„Die Monopolisierung der legitimen Gewalt durch den Staat bleibt also das determinierende Element der Macht, selbst wenn diese Gewalt nicht offen ausgeübt wird.“

Dieser Zusammenhang muss den Inhaber*innen der Staatsmacht nicht erst erklärt werden, sie wissen um ihn. Carl Schmitt, Rechtsphilosoph der konservativen Revolution und Kronjurist des dritten Reiches, erkannte:

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“

Nach diesem Postulat verfährt auch das Personal der modernen, spätkapitalistischen Demokratien. Deren Vorgehen, das Einschränken von bürgerlichen Rechten und damit einhergehend auch die Verschlechterung der Ausgangsposition für revolutionäre Organisation, bezieht die Legitimation für das Einschränken der Freiheit paradoxerweise aus dem Schutz dieser, der Demokratie. So wird beispielsweise der seit den islamistischen Anschlägen vom 13.11.2015 ausgerufene gesetzliche Ausnahmezustand in Frankreich, mit Verweis auf eine permanente Bedrohungslage, bis heute aufrecht erhalten und dessen erweiterte Befugnisse für Regierung und Präsident auch zur Durchsetzung der „loi travail“ genannten, neoliberalen Arbeitsmarktreform genutzt. Die demokratische Freiheit ist jedoch mit der Einflusssphäre und Durchsetzungsmacht des staatlichen Souveräns identisch. Sie bedingen einander und sind nicht getrennt voneinander zu betrachten, Die Freiheit ist die Erscheinung, deren Wesen die staatliche Regulierung mit all ihren Implikationen, dem oben beschriebenen Normalvollzug, ist. Dieser wird auch in der aktuellen Situation mit Zähnen und Klauen beschützt. Was, wie linksradikale Opposition es tut, gleichzeitig die ideologischen Grundlagen anzweifelt, sowie die Hegemonie herauszufordern versucht, wird mit dem Verweis, der Angriff auf die bürgerliche Hegemonie sei immer auch ein Angriff auf die liberale Freiheit, als autoritärer Rückfall abgetan. Agnoli schreibt hierzu:

„(…) genau daraus folgt, daß der Verdacht, sich außerhalb des Rechtsstaats zu stellen, unvermeidbar den trifft, der außerhalb des Machtsystems gesellschaftspolitisch handelt. Das Außerinstitutionelle wird zum Synonym der Feindschaft gegen die Freiheit- eine Umkehrung der Fronten, in der der konsequenten Opposition auch moralisch vorgeworfen werden kann, Bürgerrechte, Menschenrechte, die Demokratie, das Zusammenleben, alles Schöne und Gute zu bekämpfen.“

Dies geschieht auch unter dem Verweis auf gescheiterte Revolutionsversuche der Vergangenheit, die hier nie an ihren gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen, sondern immer nur an ihrer Gewaltausübung gemessen werden. Die Unsichtbarkeit der eigenen Gewalt, die dem als Sieger aus dem Ende der Geschichte hervorgegangenen kapitalistischen System als Erfolgstrophäe zugefallen ist, gestattet es der neoliberalen Hegemonie, sich selbst als das Gegenteil autoritärer Unterdrückung zu präsentieren.
Vom, falls notwendig, allgegenwärtigen Zugriff des Staates ist der Ausnahmezustand, der letztlich immer als Potential zur Befriedung sozialer Konflikte in der Luft schwebt, nicht verschieden, er ist lediglich ein Instrument in seinem Repertoire.

Welche Rolle spielen Hegemoniekonflikte und Rechtsruck?

Der Kampf von Gewalten, die zur Verwaltung desselben sozialökonomischen Systems entstanden sind, entfaltet sich als der offizielle Widerspruch, der in Wirklichkeit zur tatsächlichen Einheit gehört; das gilt sowohl im Weltmaßstab als auch innerhalb jeder Nation.
– Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels

Die Heftigkeit des Niederstiefelns auf das noch recht zarte Pflänzchen der revolutionären Opposition erklärt sich allerdings nicht nur mit der Bedrohung durch ebendiese, sei sie nun real oder von der Bourgeoisie,dem Bürgertum, herbei halluziniert. Die Heftigkeit der Reaktion ist mindestens ebenso der aktuellen politischen Krisentendenz geschuldet, die die neoliberale Hegemonie aktuell in Frage stellt. Der Druck auf diese Hegemonie kommt aktuell primär von rechts. Im Zuge der Wirtschaftskrise sind immer größere Teile der Bevölkerungen der Industriestaaten von sozialem Abstieg bedroht. Zu dieser wirtschaftlichen Krisensituation gesellt sich das Kollabieren staatlicher Strukturen in der kapitalistischen Peripherie. Das Ergebnis der Überflüssigmachung eines großen Teils der Weltbevölkerung für den kapitalistischen Markt und imperialistischer Interventionen in den Lebensregionen dieser Menschen präsentiert sich in Bürgerkriegen und Bandenherrschaft. Die Fluchtbewegungen, welche diese elenden Zustände hervorrufen, bedienen wiederum das paranoide Bedrohungsdenken der im Zuge der Wirtschaftskrise neu erstarkten autoritären Charaktere in den Bevölkerungen der Staaten der ersten Welt. Jahre der Diskreditierung emanzipatorischer Alternativen und linker Projekte, tragen nun im Lichte der „Flüchtlingskrise“ für die neoliberale Hegemonie ungeahnte Früchte: Der potentiell systemsprengende Ärger über die Zumutungen des Kapitalismus ist im Zuge der Diskreditierung linker Alternativen nicht verschwunden, er äußert sich nur in grausamer und reaktionärer Form: Als wieder Erstarken der völkischen Bewegung, in Deutschland besonders erfolgreich repräsentiert durch die AfD. Die gesellschaftliche Linke hat auch durch ihre eigene Arbeit, namentlich ihre entschlossene Beteiligung an den Verbrechen der gesellschaftlichen Macht in Form der Sozialdemokratie, ihre eigene Unsichtbarkeit als fundamentale Opposition gegen den Kapitalismus herbeigeführt.

Die Gesellschaft ist nun weit genug nach rechts gerückt, dass das völkische Projekt die neoliberale Hegemonie in Form der Aneignung von Parlaments- und Regierungsstellen bedrohen kann. Dies stellt diese vor die Herausforderung, die autoritär aktivierten Massen wieder aus der Gefolgschaft dieses Projektes abzujagen. In der Frühphase ihres Auftretens wurde dies vor allem mit einer Marginalisierung der Gegner*innen, in diesem Fall der AfD, und dem Versuch des Ausschlusses aus dem öffentlichen Diskurs bewerkstelligt. Dieser Ausschluss gab sich durchaus das Label eines bürgerlichen Antifaschismus- spätestens mit dem Anwachsen der völkischen Opposition wird jedoch klar, dass hier keine Abgrenzung nach rechts, sondern eine Abgrenzung nach unten stattfindet. In dem Maß, wie die völkische Bewegung wächst und an Einfluss gewinnt, steigt die Diskussionsbereitschaft der deutschen Mitte mit ihnen. Auch weil die autoritäre Aktivierung natürlich nicht an der deutschen Mitte vorbeigeht, wird nun vor allem nach Konsens gesucht- Die großen Volksparteien übernehmen politische Projekte, Stichworte und Rhetorik der AfD. Aus ihrer Sicht brauchen sie einerseits Konsensmasse bis weit nach rechts und andererseits eine Absicherung ihrer Hegemonie. Es bietet sich als Thema die innere Sicherheit, die Absicherung gegen gemeinsame Feinde an. Ein gut geeigneter gemeinsamer Feind, der das Gesicht des Gegners im Kampf um die innere Sicherheit sein kann, ist die radikale Linke- Insbesondere nach den Ereignissen von G20. Hier kommt nicht die Deutung zum Ereignis, sondern das Ereignis zur Deutung.

Der gekommene Aufstand

Nach monatelangem Heißlaufen der Mobilisierungsmaschine über alle Spektren der politischen Linken hinweg, einem Bedrohungsszenario und damit gerechtfertigtem Polizeieinsatz, die in ihrer Dimension ihresgleichen suchen und der regelrechten Lahmlegung weiter Teile einer Millionenstadt durch Sicherheitskräfte war es am ersten Juliwochenende soweit: Das Gipfelspektakel in Hamburg. Wurden vom Senat und allen voran Olaf Scholz im Vorfeld noch alle Stimmen, die Bedenken gegen die Durchführung des Treffens an diesem Standort äußerten, abgeschmettert, gerieten diese nach der Inszenierung der Proteste als „bürgerkriegsähnliche Zustände“ unter erheblichen Druck. In einer Sache war man sich allerdings sicher: Die wildgewordenen Polizisten, welche in Wirklichkeit tausendfach beim besinnungslosen Einprügeln auf Demonstrant*innen gefilmt und beobachtet wurden, sind in de Augen des Regierungschefs Hamburgs Helden, welche besonnen die staatliche Ordnung verteidigt und aufrecht erhalten haben..

Wichtig für die radikale Linke sind jetzt vor allem eine nüchterne Einordnung des Geschehenen und die Lehren, die sich (selbstkritisch) aus diesem Ereignis ziehen lassen. Zunächst, in den Tagen vor den Riots in der Schanze am Freitag, sah es fast so aus, als lauerte die Berichterstattung der bürgerlichen Medien nicht nur auf den großen Knall wie sonst üblich. So wurde kritisch über die bereits zu dem Zeitpunkt strikt durchgezogene Eskalationsstrategie der Polizei berichtet, die am Donnerstagabend beim Auftakt der Gipfelproteste, der „Welcome to Hell“ Demo, auf besonders widerwärtige Weise zum Einsatz kam. Dieser Einsatz, bei dem es mehr oder weniger Zufall war, dass es auf Seiten der Demonstrant*innen zu keinen Toten kam, löste noch ein überraschend polizeikritisches Echo in den Medien aus. Bereits zu diesem Zeitpunkt war allerdings abzusehen, dass dieses nur solange halten wird, wie die Betroffenen der Polizeigewalt, ganz nach der von de Maizière eingeforderten christlichen Leitkultur, erst die eine, dann die andere Wange hinhalten.
Bereits am nächsten Tag, als es verstärkt zu militanten Aktionen kam, veränderte sich die Berichterstattung und in der bundesdeutschen Politik und Öffentlichkeit war für viele spätestens Abends klar, als man die Bilder der brennenden Barrikaden, Suchschweinwerfer und militärisch ausgerüsteten Einheiten, die mit Schussfreigabe durch den hippen Szenekiez zogen sah, dass es sich bei den Protestierenden mindestens um kriminelle Chaoten, wenn nicht um Wiedergänger des besiegt geglaubten linken Terrors handelte. Zu dieser Entwicklung gehört auch, dass alles, was nicht zu propagandistischen Zwecken zu gebrauchen war, wie die Großdemonstration am Samstag mit über 70.000 Teilnehmern oder die mehrstündige, ohne physischen
Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht abgelaufene Blockade des Hamburger Hafens kaum mehr als eine Kurzmeldung wert war, während Freitag Nacht bis zur Räumung des Viertels durchgängig live berichtet wurde.

Die sich hieraus ergebende Einsicht: Die mediale Landschaft einer bürgerlichen Gesellschaft stellt ein Abbild der Macht- und Herrschaftsverhältnisse dar. Sicherlich bestehen zwischen ARD und ZDF, zwischen FAZ und Zeit gewisse Nuancen von konservativ bis linksliberal, allerdings kein wirklicher Unterschied in ihrer Funktion als ideologische Staatsapparate. Louis Althusser erweiterte richtigerweise in seinem Text „Ideologie und ideologische Staatsapparate“ den in der marxistischen Theorie vormals weitestgehend auf den repressiven Staatsapparat beschränkten Staatsbegriff. Demnach bedient sich die herrschende Klasse verschiedener Institutionen zur Reproduktion der ihre Herrschaft legitimierenden Ideologie. Im Falle der bürgerlich-kapitalistischen Staaten heißt dies, dass einer so gewichtigen Institution wie den Medien (neben anderen) die Bedeutung zukommt, bürgerliche Ideologie zu vermitteln, weswegen eine solch selektive Art und Weise der Berichterstattung, wie sie beim G20 oder anderem militantem, antagonistischem Protest zu beobachten ist, die schlichte Erfüllung ihrer Funktion ist. Dies geschieht allerdings in der parlamentarischen Demokratie, anders als etwa in einer Diktatur, nicht durch direkte Vorgabe,
Manipulation oder strenge Zensur der zu publizierenden Inhalte durch die politische Führung. Die Akteure und Vertreter in den Leitmedien selbst sind qua ihrer Klassenzugehörigkeit und vor allem ihrer Sozialisation, mehr oder weniger bewusst, bürgerliche Ideologen. So ist auch die Berichterstattung in diesen immer auch ein Ausdruck dessen, ohne dass überhaupt eine Notwendigkeit staatlicher Beschränkung aufkäme.
Die Erfüllung diese Funktion ist notwendig, um die Reaktion des Staates, welche sich im Bezug auf die G20 Proteste in einer öffentlichkeitswirksamen Hetzkampagne gegen linke Projekte, das Indymedia-Verbot, die harte und vor allem exemplarische Bestrafung von Gefangenen und eine bereitwillige Fortsetzung der Militarisierung der Polizei, dass es Gestalten wie Rainer Wendt regelrecht das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt, nach außen hin zu rechtfertigen.
Der Skandal hierbei ist also nicht die Art und Weise der Berichterstattung, sondern die Rolle, welche Leitmedien in der bürgerlichen Gesellschaft zwangsläufig zu Teil kommt.

Die positiven Punkte, die mit den Protesten gesetzt wurden, sind sicherlich nicht zu leugnen, allerdings überwiegt in seiner Folgenschwere, nicht zuletzt durch eine organisatorische Schwäche der radikalen Linken und einer damit einhergehenden Inkontinuität, auf der Kostenseite die Möglichkeiten, die dem Staat durch eine neue Rechtfertigungsgrundlage für Sicherheitsmaßnahmen gegeben wurden. Der Rahmen dessen, was bei Umsetzung der oben genannten präventiven Konterrevolution nun als angemessen gilt, hat sich durch die ideologische Vorarbeit durch alle bürgerlichen Parteien und die mediale Landschaft hinweg stark erweitert.
So hat man es erfreulicherweise zwar geschafft, am Protestwochende selbst nicht nur linke Aktivist*innen anzuziehen: So waren gerade die Riots am Freitagabend in all ihrer Widersprüchlichkeit und mit zum Teil selbstreferentieller Militanz doch auch ein Punkt, an dem sich Unzufriedene, Abgehängte oder auch erlebnisorientierte Jugendliche unter die üblichen Verdächtigen gemischt haben. Sicherlich sind diese vor allem auch durch den Spektakel-Charakter des Ganzen angezogen worden, doch anders, als es „Bild“ und Co. mit ihren reißerischen Titelseiten vermuten lassen, hat der Wunsch nach einem solchen und die Lust an Zerstörung einen tieferen Kern. Was sich Freitag Abend in Hamburg drastisch artikulierte, war (nicht abschließend) ein versuchter Ausbruch aus der Ohnmacht, welche die kapitalistische Herrschaft den gesellschaftlichen Randgruppen aufzwängt, die Wut hierüber, die scheinbar nur dann Gehör findet und doch gleichzeitig unverhandelt bleibt, wenn sie sich Bahn bricht oder auch die Gewaltförmigkeit der Verhältnisse, die nicht zu leugnen ist, nur weil sie monopolisiert ist und welche an den Untertanen nicht spurenlos vorbeigeht, sondern diese in Wesen und Bewusstsein mit bestimmt. So ist, bei materialistischer Betrachtung, die medial so oft beschworene „Gewaltgeilheit“ vieler eine durch ebendiesen gewaltförmigen Charakter begünstigte Prägung.

Allerdings, so zeigt es sich rückblickend, ist selbst ein so relativ kleiner, ohne daran anknüpfende Strategie nur kurzfristiger, Teilerfolg bereits genug, um das Reaktionsniveau des Staates und somit den Ausgangspunkt für weitere Kämpfe nachhaltig zu ändern. So war G20 auch ein geeignetes Experimentierfeld für Aufstandsbekämpfung und ein besonders probates Mittel, der Einsatz von SEK und anderen schwer bewaffneten Spezialeinheiten hat offensichtlich als derart geeignet erwiesen, dass man eines der Teams, das in Hamburg eingesetzt wurde, in Wurzen (Sachsen) bei einer kleinen Antifa-Demonstration am 02.09. schon einmal präventiv mit Sturmgewehren auflaufen ließ, um keine Zweifel daran aufkommen zu lassen, wer Herr im Haus ist.

Dieses Beispiel und der allgemeine Druck, den der Staat auf die radikale Linke ausübt, machen eine weitere wichtige Lehre der letzten Monate unumgänglich: Bei unserer eigenen organisatorischen Schwäche sind wir kaum in der Lage, dieser Entwicklung in Form von Gegenöffentlichkeit genug entgegenzusetzen.

Was bedeutet das alles für die radikale Linke?

Wie heikel Eure Lage und die Umstände, in denen ihr euch befindet, auch immer sein mögen, verzweifelt nicht. In Umständen, wo es alles zu fürchten gilt, heißt es nichts zu fürchten. Ist man von zahllosen Gefahren umgeben, so heißt es, keine zu fürchten. Ist man gänzlich ohne Mittel, so heißt es, auf alle zu zählen. -Sun Tsu

Von den oben beschriebenen Ereignissen des G20 Gipfels betreffen einige auch direkt die Ausgangsposition für revolutionäre Agitation und Aktion der radikalen Linken. Der herausstechendste, für die radikale Linke potentiell bedeutendste Faktor ist die neue
Sichtbarkeit. Die deutsche radikale Linke steht, in einem zumindest in diesem Jahrzehnt singulären Ausmaß, im Fokus der öffentlichen Debatte. Dies ist jedoch kein Anlass zu unreflektierter Freude, dass man in aller Munde sei. Was in der medialen und politischen Öffentlichkeit verhandelt wird, ist überwiegend eine autoritäre, rechte Projektion, eine Strohpuppe, die das Bürgertum sich anschickt zu verbrennen, um sich am Feuer des Volkszornes zu wärmen. Dennoch bezieht sich das rechte Schreckgespenst auf real vorhandene Versuche von uns, eine andere Gesellschaftsform als den Kapitalismus wieder denkbar zu machen.

Es ist zu überlegen, wie mit der Situation, dass wir nun wesentlich wahrnehmbarer und mit dem Mythos weitreichender Wirkungsmacht ausgestattet sind, umgehen. All dies unter dem Vorzeichen, dass wir auch bei einigen Linksliberalen, die uns zum Beispiel bei Antifa Aktionen noch distanziert- halbsolidarisch betrachten, nun als hassenswerter Feind dastehen.

Unumgänglich drängt sich sofort die wirkliche Unsichtbarkeit innerhalb der neuen Sichtbarkeit auf. Zwar wird überall über uns geredet, jedoch nirgendwo mit uns. Die radikale Linke braucht sichtbare, hörbare Sprecher*innen in einem Format, das nicht einfach marginalisiert werden kann. Zur unmitelbaren Zeit der G20-Proteste ist dies auch zeitweise zumindest teilweise gelungen. Die Debatte im Nachhinein, die auf der G20-Debatte aufbaut und mindestens ebenso weitreichend ist, gestalten wir jedoch nicht mit. Die Linke muss sich in den Stand setzen, die Öffentlichkeitskämpfe, welche Aufschlägen wie den G20 Protesten folgen, zumindest mit zu gestalten. Es geht nämlich um alles oder nichts: Wenn wir es nicht schaffen, gegen den Hype zu wirken, ist unsere größere Sichtbarkeit die einer größeren Zielscheibe: Entweder wir ziehen Nutzen aus der Situation oder die restaurativen Kräfte, die im Rechtsruck ohnehin stark sind.

Gleichzeitig ist der rechten Offensive weiter einzuheizen und zu begegnen. Auch weil die völkisch autoritäre AfD die anderen Parteien vor sich her treibt und diese versuchen, ihr Wähler*innen abzuwerben, indem sie schlicht deren Programmpunkte umsetzen, muss diese Partei und ihre Ideen bei jeder Gelegenheit diskreditiert werden. Wenn völkische Bewegungen in ihrer Reichweite und Organisationsfähigkeit eingeschränkt werden, bewegt sich die neoliberale Hegemonie automatisch weniger auf diese zu. Die Legitimation völkischer Ideologie als eine Gesprächsposition wie jede andere ist eine wichtige Grundlage für deren Akzeptanz bei einem breiteren Publikum als der ohnehin vorhandenen rechten Basis. Bei der Wahl unserer Lösungsvorschläge haben wir uns dem orientiert, von dem wir glauben, dass es mit den momentan bescheidenen Mitteln der radikalen Linken machbar ist. Es gilt jedes dieser Mittel zu nutzen.

 

Antifa AK Köln im Herbst 2017